Duell der Literaturkritiker: Q2er rezensieren den Gewinner des Deutschen Buchpreises
Von Marlene Minwegen

Das Blutbuch – ein pornografischer Sex-Roman, oder ein sprachlich-literarisches Meisterwerk der Gegenwartsliteratur, welches zurecht den Deutschen und Schweizer Buchpreis gewann?
In der Autofiktion „Blutbuch“ von Kim de l’Horizon, welches im Juli 2022 im Kölner DuMont Verlag erschien, geht es um die Kindheit und die vermutlich circa ersten zehn Jahre des Erwachsenseins der nicht-binären Hauptperson Kim (deswegen möchte Kim mit dem Pronomen dey/dem angeredet werden). Das Buch richtet sich in meinen Augen vor allem an Menschen, die sich mit Kim und deren Bedürfnissen oder Problemen identifizieren können. Es kann aber auch problemlos von der breiten Masse gelesen werden, jedoch sollte man ein gewisses Maß an Reife und Begeisterung für Sprache mitbringen, wenn man das Buch lesen und verstehen will.
In den ersten zwei Kapiteln werden Ereignisse aus Kims Kindheit dargestellt. In denen geht es größtenteils um deren Großmutter, die dey im schweizerdeutschen Stil Großmeer nennt. Schon in diesen Kapiteln wird die Körperlichkeit thematisiert. Dieses Motiv zieht sich auch durch die folgenden Kapitel. In diesen geht Kim auf die Suche nach deren Geschichte. Zum einen findet dey deren persönliche Familiengeschichte, zum anderen geht dey auf die Suche nach der Geschichte der Blutbuche, welche im Garten des Hauses steht, in dem Kim aufwuchs.
Ich persönlich fand es schwierig, mich anfangs in die Handlung des Buches einzufinden. Je länger ich jedoch gelesen habe, desto leichter fiel es mir, mich in die Handlung einzudenken. Allerdings merkte ich auch, dass das eigentliche Interessante am Blutbuch nicht unbedingt die Handlung ist, sondern die sprachliche Gestaltung.
Ich war in diesem Buch ein riesiger Fan davon, wie mit Sprache gearbeitet wurde. Vor allem der expressionistische Schreibstil, den man in vielen Passagen des Buches finden kann, hat es mir angetan. In jedem Kapitel finden sich neue sprachliche Auffälligkeiten. In einem Teil des zweiten Kapitels darf das Kind aufgrund einer ausgedachten Geschichte nicht mehr als sieben Wörter sagen, weshalb ein Großteil des zweiten Kapitels dieser Regel folgt. Das dritte Kapitel hingegen enthält außerordentlich lange, verschachtelte Sätze, die sich zum Teil über mehrere Seiten strecken.
Die Körperlichkeit greift de l’Horizon im Buch durch zwei Motive auf. Einmal mit der Suche nach dem eigenen Körper und der Suche nach Körperlichkeit in Form von Sex. Dieser ist durchgehend sehr überanschaulich und bildlich beschrieben. Der Fokus liegt nicht darauf, ob und wie Kim und deren Sexualpartner einen Orgasmus haben, sondern viel mehr darauf, wie sich der Sex für Kim anfühlt. Kim reduziert deren Körperlichkeit nicht explizit darauf, nicht- binär zu sein. Vielmehr geht dey darauf ein, wie es ist, sich nicht im eigenen Körper zu fühlen bzw. das Gefühl zu haben, dass der eigene Körper nicht einem selbst gehöre. Diesem Nicht- Fühlen wirkt Kim entgegen, indem dey sich von anderen Männern penetrieren lässt. Nur so fühlt Kim sich selbst.
Dies bringt mich zu einem weiteren Merkmal, das ich am Blutbuch so spannend finde. Obwohl der Fokus klar auf der sprachlichen Gestaltung liegt, ist der Inhalt kompliziert verwoben. In den Kapiteln am Ende werden gedankliche Bögen zu Geschehnissen aus den ersten Unterkapiteln geschlagen, wodurch das Buch trotz verschiedener zeitlicher Ebenen und Erzählstränge sehr rund scheint.
Um jetzt auch einen gedanklichen Bogen zu schlagen: In meinen Augen ist das Blutbuch definitiv sprachlich gesehen ein kleines Meisterwerk. So viele Sprachstile und Handlungsstränge sinnvoll miteinander zu verknüpfen, erfordert viel Talent und ist eine große Leistung. Es als Sex-Roman zu betiteln wäre vermutlich etwas übertrieben. Natürlich kann man sich nach dem Lesen die Frage stellen, ob man das Thema Körperlichkeit nicht hätte anders verarbeiten können, jedoch sollte man nicht vergessen, dass das Blutbuch eine Autofiktion ist. Sex scheint wohl für de l’Horizon ein bedeutender Teil deren Lebens und eventuell Persönlichkeit zu sein, weshalb Sex als Mittel der Findung der Körperlichkeit auf jeden Fall seinen Platz im Blutbuch verdient hat.
Man kann nur noch einmal wiederholen, wie besonders und einzigartig das Spiel mit Sprache in diesem Roman ist, weshalb in meinen Augen die beiden Buchpreise sehr verdient sind.
Ich kann das Buch auf jeden Fall weiterempfehlen, jedoch unter dem Vorbehalt, dass man nicht mit der Erwartung ins Lesen gehen sollte, dass man jetzt ein Buch mit einem äußerst ausgeklügelten Plot liest. Am Ende ist das Blutbuch nämlich vermutlich eher ein Kunstwerk als ein Strandschmöker.